Frau*, Leben, Freiheit
Manifest der Mindestforderungen unabhängiger gewerkschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Organisationen im Iran
- Februar 2023
Seid gegrüßt, ehrenwerte und freie Menschen Irans!
Am 44. Jahrestag der Revolution von 1979 im Iran befinden sich die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Grundfesten der Gesellschaft in einer beispiellosen Spirale aus Krisen und Zerfall. Zugleich ist eine klare und umsetzbare Vision zu deren Beendigung innerhalb des bestehenden politischen Systems nicht in Sicht. Aus diesem Grund haben die unterdrückten Menschen im Iran – darunter Frauen* und Jugendliche, die nach Freiheit und Gleichberechtigung streben – die Straßen des ganzen Landes in Zentren eines historischen und entscheidenden Kampfes verwandelt, um diese unmenschlichen Zustände zu beenden. Trotz der blutigen Niederschlagung durch das Regime kämpfen sie seit 5 Monaten (seit dem 16. September 2022) ohne Atempause weiter.
Heute repräsentiert die Flagge dieser Proteste, die von Frauen*, Student*innen, Lehrer*innen, Arbeiter*innen, nach Gerechtigkeit Suchenden, Künstler*innen, Queers, Schriftsteller*innen und allen unterdrückten Menschen des Irans von Kurdistan bis Sistan und Belutschistan gehisst wird und eine beispiellose internationale Unterstützung erfährt, einen fundamentalen Widerstand. Dieser Widerstand richtet sich gegen Frauenfeindlichkeit, Genderdiskriminierung, tiefe wirtschaftliche Unsicherheit, Arbeitssklaverei, Armut, Elend, Klassenunterdrückung sowie rassistische und religiöse Diskriminierung. Es ist eine Revolution gegen jede Form religiöser und nicht-religiöser Tyrannei, die den Menschen im Iran im letzten Jahrhundert aufgezwungen wurde.
Die Proteste finden im Kontext großer und moderner sozialer Bewegungen sowie dem Aufstieg einer unbesiegbaren Generation statt, die entschlossen ist, einer jahrhundertelangen Geschichte der Rückständigkeit und Marginalisierung ein Ende zu setzen und für eine moderne, wohlhabende und freie Gesellschaft im Iran zu kämpfen.
Nach den beiden großen Revolutionen in der jüngeren Geschichte Irans haben die führenden sozialen Bewegungen – darunter die Arbeiter*innen-, Lehrer*innen- und Rentner*innenbewegung, die Frauen*, Student*innen- und Jugendbewegung, die nach Gleichberechtigung streben, sowie die Bewegung gegen die Todesstrafe – nun einen historischen und entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des Landes von der Basis aus gewonnen.
Die Bewegung zielt also darauf ab, die Bildung jeglicher Macht von oben dauerhaft zu beenden und den Beginn einer modernen, humanen und sozialen Revolution zu markieren, die die Menschen von allen Formen der Unterdrückung, Diskriminierung, Ausbeutung, Tyrannei und Diktatur befreit.
Wir, die unabhängigen Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen, die dieses Manifest unterschrieben haben, verstehen die folgenden Mindestforderungen als erste Handlungsaufträge, als Ergebnis der massiven Proteste der Menschen im Iran und als Grundlage für den Aufbau einer neuen, modernen und menschlichen Gesellschaft. Dabei konzentrieren wir uns auf die Einheit und Vernetzung der sozialen Bewegungen sowie auf den Kampf gegen die gegenwärtige unmenschliche und zerstörerische Situation im Iran. Wir rufen alle, denen Freiheit, Gleichberechtigung und Emanzipation wichtig sind, dazu auf, diese Mindestforderungen in Fabriken, Universitäten, Schulen, Nachbarschaften, auf der Straße und auf der internationalen Bühne zu erheben. Gemeinsam können wir das Ziel der Freiheit erreichen:
- Die sofortige und bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen sowie die Beendigung der Kriminalisierung politischer, gewerkschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Außerdem der öffentliche Prozess gegen diejenigen, die für die Unterdrückung der Massenproteste verantwortlich sind.
- Uneingeschränkte Meinungs-, Gedanken-, Presse- und Parteienfreiheit, Freiheit bei der Gründung lokaler und landesweiter Gewerkschaften sowie Massenorganisationen, Versammlungs-, Demonstrations- und Streikfreiheit sowie Freiheit im Bereich sozialer Netzwerke und audiovisueller Medien.
- Die sofortige Abschaffung aller Arten von Todesstrafe, Hinrichtung und Vergeltung sowie das Verbot jeder Art von psychischer und physischer Folter.
- Die sofortige Erklärung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen* auf allen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und familiären Ebenen
Die bedingungslose Abschaffung diskriminierender Gesetze gegen die Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten und Orientierungen, die Anerkennung der Regenbogengesellschaft von “LGBTQIA+”, die Entkriminalisierung aller geschlechtlichen Zugehörigkeiten und Orientierungen sowie die bedingungslose Einhaltung der Rechte der Frauen* über ihren Körper und ihr Schicksal. Außerdem die Einhaltung von Selbstbestimmung und die Verhinderung patriarchaler Kontrollmechanismen.
- Religion wird als Privatsache des Einzelnen anerkannt und sollte nicht in die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verordnungen und Gesetze des Landes einbezogen werden.
- Die Gewährleistung von Arbeitsschutz, Arbeitsplatzsicherheit und einer sofortigen Erhöhung der Gehälter von Arbeiter*innen, Lehrer*innen, Angestellten, allen Erwerbstätigen und Rentner*innen. Diese sollen in Anwesenheit, unter Beteiligung und mit Zustimmung der gewählten Vertreter*innen ihrer unabhängigen und landesweiten Organisationen festgelegt werden.
- Die Abschaffung aller Gesetze und Haltungen, die auf rassistischer und religiöser Diskriminierung und Unterdrückung beruhen. Es müssen zudem unterstützende Infrastrukturen und Einrichtungen entstehen, die eine gerechte Verteilung von Ressourcen zur Förderung von Kunst und Kultur in allen Regionen Irans sicherstellen. Dies gilt auch für notwendige Einrichtungen, die das Erlernen und Lehren aller in der Gesellschaft gesprochenen Sprachen ermöglichen.
- Die Abschaffung aller staatlichen Repressionsorgane, die Einschränkung jeglicher Staatsmacht und eine direkte und ständige Beteiligung der Menschen im Iran an der Verwaltung der Angelegenheiten im Land durch lokale und landesweite Räte. Zu den Grundrechten der Wähler*innen gehört es, alle staatlichen und nichtstaatlichen Amtsträger*innen jederzeit abberufen und entlassen zu können.
- Die Konfiszierung des Eigentums aller natürlichen und juristischen Personen sowie staatlichen, halbstaatlichen und privaten Institutionen, die sich das Eigentum und den gesellschaftlichen Reichtum der Menschen im Iran durch direkte Plünderung oder staatliche Aufträge angeeignet haben. Der aus diesen Konfiszierungen gewonnene Reichtum soll unverzüglich für die Modernisierung und den Wiederaufbau des Bildungswesens, der Rentenkassen, der Umwelt und für die Sicherstellung der Bedürfnisse jener Regionen und Menschen im Iran verwendet werden, denen während der beiden Regime der Islamischen Republik und der Monarchie ihre gleichberechtigten Chancen und Zugänge zu Einrichtungen geraubt wurden.
- Die Beendigung der Umweltzerstörung und die Umsetzung grundlegender politischer Maßnahmen zur Wiederherstellung der in den letzten hundert Jahren zerstörten Umweltinfrastruktur. Darüber hinaus die Verhinderung der Privatisierung öffentlicher Ressourcen (wie Weiden, Strände, Wälder und Vorgebirge), durch die der Bevölkerung bisher das Recht auf Zugang zu und Nutzung von diesen Ressourcen verweigert wurde.
- Das Verbot von Kinderarbeit und die Sicherstellung, dass alle Kinder, unabhängig vom wirtschaftlichen und sozialen Status ihrer Familie, Zugang zu Bildung haben. Zudem sollen öffentliche Wohlfahrtsprogramme eingerichtet werden, die eine Arbeitslosenversicherung und eine starke soziale Absicherung für alle Menschen im arbeitsfähigen Alter sowie kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung für alle ermöglichen.
- Normalisierung der Außenbeziehungen auf höchster Ebene mit allen Ländern der Welt auf Grundlage fairer Beziehungen und gegenseitigen Respekts, des Verbots, Atomwaffen zu erwerben und des Strebens nach Weltfrieden.
Unserer Ansicht nach können die oben genannten Mindestanforderungen aufgrund des Ressourcenreichtums im Land, der Existenz sachkundiger und fähiger Menschen im Iran sowie einer Generation von jungen Menschen und Jugendlichen, die motiviert sind, ein glückliches, freies und wohlhabendes Leben zu genießen, sofort umgesetzt werden.
Die in dieser Charta zum Ausdruck gebrachten Forderungen berücksichtigen die grundlegenden Fundamente der Forderungen der Unterzeichner*innen, und wir werden sie selbstverständlich präziser und detaillierter ausgestalten, indem wir unseren Kampf und unsere Solidarität fortsetzen.
Unterzeichnende:
– Koordinierungsrat der Gewerkschaftsorganisationen der iranischen Lehrer*innen
– Unabhängige Iranische Arbeiter*innengewerkschaft
– Union der Studentenorganisationen der Vereinigten Studenten
– Zentrum für Menschenrechtsverteidiger*innen
– Syndikat der Arbeiter*innen der Haft Tappeh Cane Sugar Company
– Rat für die Organisation der Proteste von Öl-Vertragsarbeiter*innen
– Iranisches Kulturhaus (Khafa)
– Der Ruf der iranischen Frauen
– Die unabhängige Stimme der Arbeiter der Ahvaz National Steel Group
– Zentrum der Verteidiger der Arbeitnehmer*innenrechte
– Gewerkschaft der Elektro- und Metallarbeiter*innen von Kermanshah
– Koordinierungsausschuss zur Unterstützung des Aufbaus von Arbeitnehmer*innenorganisationen
– Gewerkschaft der Rentner*innen
– Rat der Rentner*innen von Iran
– Organisation fortschrittlicher Student*innen
– Rat der freidenkenden Student*innen von Iran
– Malersyndikat der Provinz Alborz
– Ausschuss zur Überwachung der Gründung von Arbeitnehmer*innenorganisationen im Iran
– Rat der Rentner*innen der Organisation für soziale Sicherheit (BASTA)